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27.08.2024 14:18

Kalthäuser (0010-2024)

Wohngemeinschaften ja klar, darunter konnte ich mir etwas vorstellen. Aber sogenannte Kalthäuser als Gemeinschaftseinrichtungen? Meine Neugierde war geweckt. 

[In der Blog-Übersicht wird hier ein Weiterlesen-Link angezeigt]

Zum ersten Mal hörte ich etwas von Gemeinschaftsgefrieranlagen, den sogenannten Kalthäusern, als ich für das Kreismuseum Syke eine Ausstellung über Ernährung im Wandel der Zeit vorbereitete. Ich sprach Leute, die aus der Region stammten, darauf an. Ich ging in Archive und recherchierte in alten regionalen Zeitungen.

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Ein Phänomen der fortschreitenden Industrialisierung nach dem Krieg

Gemeinschaftsgefrieranlagen, sogenannte Kalthäuser, waren ein Phänomen der 1950er und 60er Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Wiederaufbau der Wirtschaft im zerstörten Deutschland. Eine neue Phase der Industrialisierung brachte moderne Technik in alle Lebensbereiche. Waren zuvor bereits die meisten Haushalte ans Stromnetz zwar angeschlossen, begann aber jetzt erst die eigentliche Elektrifizierung der Haushalte. Manche Geräte waren für den breiten Markt aber noch nicht ausgereift oder schlichtweg zu teuer, so auch Gefriergeräte. Auch verfügten die meisten Haushalte nicht über das nötige Geld.

Abb.1 :  Das Kalthaus Blenhorst im Landkreis Nienburg.

Transportable Kühlschränke für private Haushalte fanden schnell ihre Abnehmer. Anders die Gefrieranlagen: Sie waren bautechnisch aufwändig und brauchten viel Platz. Deshalb wurde der Bau von Gemeinschaftsgefrierhäusern auf dem Lande vom Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung gefördert. Die Landwirtschaftskammern vermittelten das Know-how und stellten Berater und Informationsbroschüren bereit.

Abb. 2: Vorraum im Kalthaus Blenhorst.

Meine Recherchen beziehen sich auf Anlagen im Landkreis Diepholz (bzw. in den damaligen Grafschaften Hoya und Diepholz).(1) In den beiden Altkreisen Grafschaft Hoya und Grafschaft Diepholz wurden Mitte der 1950er Jahre die ersten Anlagen eingeweiht: in Magelsen am 27. März 1954, Sudweyhe, Brinkum, Harpstedt und viele andere folgten. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft führte in den Jahren 1955-60 statistische Erhebungen durch. 1960 gab es in der Grafschaft Hoya 67 und in der Grafschaft Diepholz 51 solcher Anlagen. In Niedersachsen waren es laut Statistik insgesamt 1231. Bei meinen Recherchen konnte ich Hinweise auf insgesamt 90 Gefrierhäuser sammeln.(2)

Weshalb Gemeinschaftsanlagen?

Das Interesse an den Gefrieranlagen war der Modernisierung geschuldet und primär politisch motiviert: Die Landwirtschaft sollte rationalisiert werden und weniger arbeitsintensiv sein. Das Haltbarmachen von Lebensmitteln war sehr zeitaufwändig. Gemüse und Obst musste vorbereitet und eingekocht werden. Fleisch musste nach dem Schlachten schnell verarbeitet wer-den. Selbst geschlachtet (Hausschlachtung) wurde saisonal vorzugsweise nur im Winter. Das Gefrieren erleichterte also die Arbeit von Männern wie von Frauen, Zeit wurde gespart.

Abb. 3: Gefrierfächer im Kalthaus Hallstedt (Bassum).

Anfang der 1960er Jahre war die höchste Auslastung erreicht, obwohl sich auch danach noch neue Gefriergemeinschaften bildeten. In den 1970ern begann der Niedergang: Gefriertruhen und Gefrierschränke waren mittlerweile erschwinglicher geworden. Der Sonntagsbraten war aus der eigenen Truhe im Haus schneller geholt, als vom Kalthaus ein paar Straßen weiter. Auch wurden nicht mehr so viel selbst geschlachtet wie früher. Auf dem Land war das noch lange nach dem Krieg selbstverständlich. Je städtischer die Kleinstädte auf dem Land wurden, desto unbedeutender wurde die Selbstversorgung und hatte nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher. Mehr Lebensmittel wurden zugekauft. Die Schweinekoben und Hühnerställe hinterm Haus verschwanden, die Nutzgärten wichen zunehmend Ziergärten und Rasenflächen. 

Abb. 4: Im Gefrierraum herrschen -18ºC.

Ich stamme beispielsweise aus einem kleinstädtischen Haushalt in Süddeutschland, meine Eltern schafften sich erst Anfang der 1980er Jahre einen Gefrierschrank an. Wir kauften Fleisch bis dahin immer frisch. Nutztiere hielten wir nicht. Obst (Zwetschgen, Birnen, Kirschen) und Gemüse (Bohnen, Erbsen) wurden eingemacht oder anderes wie Äpfel oder Kartoffeln im Keller gelagert. Erstaunt hat mich dennoch, dass ich nichts von Kalthäusern in meiner Umgebung mitbekommen habe. Vermutlich war unsere Kleinstadt schon „verstädtert“. Nur eine Tante erinnerte sich an solche Einrichtungen. Bei ihr thronten übrigens 2 Gefriertruhe in der Garage mit viel Abstellraum im Untergeschoss ihres Wohnhauses auf einer Art Podest. Ein Hühnerstall befand sich ebenfalls im Unterbau des Wohnhauses und verfügte über einen großen eingezäunten Auslauf für die Hühner. Der Schweinekoben in einem extra Bereich stand bereits leer. Ich erinnere mit deshalb so gut daran, weil wir als Kinder im Untergeschoß des Wohnhauses, im Schuppen daneben und im Garten spielten. Ein Paradies zum Verstecken, und das direkt im Ortszentrum unserer kleinen Stadt.

Der Niedergang der Gemeinschaftsgefrieranlagen

Die eigentliche Hochphase der Kalthäuser waren also die 1950-60er Jahre, dennoch konnten sich einige Gefriergemeinschaften noch länger halten. Wer größere Mengen einfrieren wollte, selbst noch schlachtete, schätzte die Vorteile der großen Anlagen mit der Möglichkeit zum Schockfrosten: Der Gefriervorgang für große Mengen an Gefriergut (z. B. große Fleischstücke) erfordert für sich schon eine hohe Gefrierleistung, über die eine normalen Gefriertruhe nicht verfügt. Einige wenige Kalthäuser schafften sogar den Sprung ins 21. Jahrhundert, beispielsweise eine Gemeinschaft in Hallstedt bei Bassum bestand bis 2008, eine in Schweringhausen und eine in Donstorf bis 2010.

Abb. 5: Das Kalthaus Holzhausen besteht 2024 noch.

Die Kalthaus-Gemeinschaft in Holzhausen, einem Ortsteil von Bahrenborstel in der Samtgemeinde Kirchdorf dürfte nun mehr die letzte in der Region sein. 2022 erhielt ich einen Anruf aus Holzhausen: Das Kalthaus stünde vor dem aus, weil die Anlage modernisiert werden müsste und die Kalthausgemeinschaft finanzielle Unterstützung bräuchte. Die 19 Eigentümer setzten sich zusammen und konnten mithilfe des Heimatvereins Zuschuss vom Landschaftsverband für die anstehenden Renovierungsarbeiten und die erforderlichen neuen Bau- bzw. Ersatzteile erhalten. Das Kalthaus beim Dorfgemeinschaftshaus hat sich noch einmal behaupten können und besteht 2024 beim Abfassen dieses Textes immer noch.(3)

Abb. 6: Vorfroster und Gefrierraum Kalthaus Holzhausen.

Materialien zu den Kalthäusern

Einige der letzten Gemeinschaftsgefrieranlagen in der Region zwischen Weser und Hunte konnte ich im Zuge meiner Neugierde im Sommer 2007 noch selbst besichtigen und fotografieren: Blenhorst (Lkr. Nienburg), Hallstedt (bei Bassum), das erwähnte Holzhausen (bei Bahrenborstel) Schweringhausen. Die Anlage in Groß Lessen wurde gerade abgebaut. Über andere Kalthäuser sind Unterlagen erhalten geblieben, beispielsweise bekam ich Fotos, Dokumente und Berichte von Betreibern der Kalthaus-Gemeinschaft in Donstorf und dem privatwirtschaftlich geführten Kalthaus Molkerei Niemann in Wagenfeld. Im Stadtarchiv Twistringen schlummerten zwei umfangreich Konvolute zu den Kalthäusern Mörsen und Neuenmarhorst. Aus anderen Archiven erhielt ich Hinweise und einige Dokumente wie beispielsweise über die Gefriergemeinschaft in Süstedt vom Gemeindearchiv Bruchhausen-Vilsen.

Einige Gefrierhäuser wurden von Gemischtwaren- oder Lebensmittelhändlern geführt, wie das von Clemens Westermann in Twistringen. Hinweise, vor allem auf Interessengemeinschaften und kleinere privatwirtschaftlich geführte Gefrierhäuser (zum Beispiel in Verbindung mit einem Lebensmittelgeschäft) sind oft zufällig. Manchmal fand ich nur eine kleine Anzeige in der regionalen Presse. Oder ich erhielt einen mündlichen Hinweis, wie zuletzt im Februar 2012 auf eines in Melchiorshausen (4), es gehörte zum Lebensmittelgeschäft Nienaber. In den Adressbüchern wurde es nicht extra erwähnt.

Eine systematische Recherche im Genossenschaftsregister war bis zur Drucklegung meines damaligen (längeren) Beitrags in den „Materialien zur Alltagsgeschichte und Hausforschung“, herausgegeben vom Kreismuseum Syke, nicht mehr zu schaffen. In jedem Fall hatte ich vielfältiges und umfangreiches Quellenmaterial zusammengetragen, das allemal unterschiedliche Einblicke ins Thema Kalthäuser bietet. Auf meiner Internetseite www.kulturelle-impulse.de werde ich weitere Materialen – wieder (5) – einstellen, zum Beispiel die Tabellenübersicht der bisher erfassten Anlagen und Textauszüge eines längeren Beitrags im Materialienband 2 (2011), eine Publikation  aus dem Kreismuseum Syke.(6)

Abb. 7: Aushang im Gefrierhaus Blenhorst.


Abbildungen

Alle Fotos und Scans: Elsbeth Kautz © 2007


Anmerkungen

(1) Ab 1977 bilden beide zusammen den Landkreis Diepholz.

(2) Sämtliche Ordner mit meinen Recherchen habe ich dem Kreismuseum Syke überlassen.

(3) Im August 2024 rief ich Annemarie Sünkenberg vom Heimatverein Holzhausen an, um zu fragen, ob die nötige Finanzierungshilfe gefunden werden konnte. Sie bestätigte mir, dass das Gemeinschaftsgefrierhaus am Dorfplatz nach wie vor nach-gefragt wird und so zu einem zentralen Sammelpunkt in der Gemeinde geworden ist. Nachdem auch das letzte Gasthaus geschlossen hat, ist eine funktionierende gemeinschaftliche Einrichtung umso wichtiger für das Dorf.

(4) Siehe PDF „Liste Kalthäuser“ auf www.expose-am-wegesrand.de unter Sammlung 0010-2024 Kalthäuser.

(5) Meine Webseite www.kulturelle-impulse war erstmals 2008 bis 2012 online. Seit 2022 ist sie mit neuem Layout und neuen Inhalten wieder online.

(6) Elsbeth Kautz: Kalthäuser. Gemeinschaftsgefrieranlagen in der Region zwischen Weser und Hunte. Materialien zur Alltagsgeschichte, Hausforschung und Kultur im Landkreis Diepholz und benachbarten Regionen. Herausgeber Kreismuseum Syke 2011, S. 75-140.


Bilderalbum, Datenblatt und Druckversion siehe Sammlung