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16.08.2024 14:18

Der Stein des Anstoßes (0005-2024)

Mein Pflasterstein heißt: Der Stein des Anstoßes. Als ich den Stein an seinem Fundort zum ersten Mal in die Hand nahm, begannen sogleich die Assoziationen – quasi automatisch.

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Ich nahm ihn mit nach Hause, wo er verarztet wurde, und wo er seitdem in stationärer Behandlung und bei jedem Umzug mit dabei ist. Mir gefiel die Idee, mit dem Doppelsinn und mit den Assoziationen zu spielen.

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Zugegeben, ein mit Wundpflaster beklebter schnöder Pflasterstein alleine besitzt eigentlich keine künstlerische „Fallhöhe“. (1)  Da hilft auch die Bemalung des Pflasters auf dem Pflaster-stein mit roter Farbe nichts, die die blutenden Wunden des Steins darstellen sollen. Und die zwei Karteikärtchen mit Informationen zur Fundsituation waren von vorneherein als Pseudokärtchen eines nicht vorhandenen Archivs von irgendwas konzipiert. Also ist der Stein des Anstoßes weder Kunst noch Wissenschaft? Nun sei es drum, den Ansprüchen eines „Dings“ für die Sammlung Dinge – Exposé am Wegesrand genügt es und im Sinne des Konzepts von Dinge – Exposé ist es allemal passend.

Abb. 2: Erstes Karteikärtchen.

Abb. 3: Zweites Karteikärtchen.

Der Pflasterstein wurde laut den Kärtchen in der Nacht zum 4. Dezember 1993 gegen 3 Uhr morgens beim Bremer Steintor gefunden. Das stimmt schon mal nicht, denn es war im Oster-torsteinweg, etwa auf Höhe des Theaters. Daran kann ich mich gut erinnern. Weshalb ich dann aber Steintor geschrieben habe? Ich war in jener Nacht mit einem Freund unterwegs. Wir kamen vermutlich aus der „Schule“ (2) , so hieß unsere Stammkneipe in einer Seitenstraße des Bremer Viertels. Da es schon spät war, hatten wir vermutlich noch einen Abstecher ins Bistro Brasil gemacht. Aus einer Laune heraus griff ich mir einfach einen Stein aus dem Haufen von Pflastersteinen, der dort für Bauarbeiten bereit lag. Ich weiß noch, wie ich schwadronierte, die Vielseitigkeit des Pflastersteins rühmte und was man mit dem Stein alles machen kann und nahm ihn kurzer Hand mit nach Hause. Dort beklebte ich ihn anderntags mit Pflastern und malte die rote Farbe auf.


Mir gefiel die Idee, dass der Pflasterstein blutet und ich ihn verarzte. Auf dem ersten Kärtchen steht denn auch: „Fundort“ und „Seitdem in stationärer Behandlung“. Die weiteren Eintragungen halten in recht krakeliger Schrift die weiteren Stationen fest. Ich bin damals oft umgezogen. Ich habe noch ein zweites Kärtchen angelegt, aber auch hier verblasst die Schrift zu-nehmend. Meine aktuelle Adresse als Station fehlt auf der Eintragung noch. Der Stein wie die Kärtchen liegen meist auf dem Fensterbrett oder in verwende den Stein im Regal als Buch-stütze.

Mittlerweile ist eines der Pflaster mürbe und brüchig geworden, ich riss es ab. In diesem Zu-stand ist der Stein bis zuletzt geblieben. Die Einbeziehung meines „Stein des Anstoßes“ in das Sammelprojekt ist ein guter Anlass, ihn zu restaurieren. Das heißt er bekommt ein neues Pflaster auf seine „Wunden“, die so soll es sein, auch aufgefrischt werden müssen.

Abb. 4: Der Stein des Anstoßes vor der Restaurierung. Oben war ein Pflaster bereits abgefallen und das andere klebte nicht mehr richtig und lag nur noch locker auf dem Pflasterstein. Beide wurden bei der Restaurierung durch neue ersetzt und die Wunden mit roter Aquarellfarbe aufgefrischt.

Zuerst dachte ich, es wäre interessant etwas über Pflaster, Pflastersteine und die Geschichte gepflasterter Wege wie beispielsweise Römerwege oder den Charme von alten Pflasterstraßen zu schreiben. Ich muss auch gestehen, dass ich immer hingerissen bin, wenn ich Handarbeitern beim Pflastern mit den alten, traditionellen Pflastersteinen zusehe. (Ich habe noch keine Frau bei solchen Arbeiten gesehen.) Um zügig arbeiten zu können, braucht es ein Ge-spür und den rechten Blick, damit immer der nächste passende Stein zum Setzen ausgewählt werden kann. Einen habe ich deshalb sogar mal angesprochen. Das war auf dem Gelände des Kreismuseums in Syke (siehe Foto am Ende des Artikels). Der Mann verlegte die Zufahrt vor dem Tor des großen Bauernhauses. Die Steine stammten u.U. aus dem Umfeld des Fachwerkhauses von seinem ursprünglichen Standort, bevor es transloziert wurde. Pflaster-steine wie mein Pflasterstein werden allerdings schon im industriellen Maßstab und maschinell verlegt. (3)


Es zeigt sich der Vorzug von Pflasterung gegenüber Asphalt: Pflastersteine können wieder-verwendet werden. Und die natürlichen Steine sind in jedem Fall noch attraktiver als die industriell gefertigten Betonsteine. Mein „Stein des Anstoßes“ könnte ein Pflaster „Indisch schwarz“ (4) sein. Daneben gibt es noch die unbearbeiteten Feldsteine für vorzugsweise Mauer-arbeiten. Aber: Nur die gehauenen, bearbeiteten Steine sind die gemeinten Pflastersteine, die sich jederzeit in Wurfgeschosse verwandeln können. Und genau diesen Doppelsinn von Pflasterstein hatte ich im Kopf als ich den Stein im Bremer Viertel aufhob. In Bremen wurde (nicht nur) zu der Zeit gern und viel demonstriert, da fand ich es schon amüsant, dass die Munition für den Kampf auf der Straße offen und griffbereit da lag. Mir kommen bei der Überlegung zur Verwendung von Steinen als Wurfgeschosse die antiken Katapulte und Steinschleudern (David!) in den Sinn. Doch nur der Pflasterstein erlaubt den Doppelsinn Wunde und Pflaster, sogar in dem Sinn, dass die Bepflasterung die Wunde, die dem natürlichen Boden durch den Straßenbau zugefügt wurde, bedeckt. (Jim Morrison: “What have they done to the earth / What have they done to our fair sister / Ravaged and plundered and ripped her and bit her / … “) (5)

Abb. 5: Wortgraph Pflasterstein, Bildnachweis siehe unten. 

Gibt man im Internet Pflasterstein ein, gelangt man unter anderem auf die Seite der Universität Leipzig, die ein „Deutsches Nachrichten-Korpus basierend auf Texten gecrawlt 2018 mit 46.843.422 Sätzen“ (6) bereitstellt. 8 von 10 Beispielsätze zeugen vom missbräuchlichen Einsatz des Pflastersteins, nur 2 verweisen auf den wahren Verwendungszweck. Spätere Historiker und erst recht Archäologen werden es nicht leicht haben, wenn sie anhand solcher Dokumente Rückschlüsse auf den Zweck von Pflastersteinen ziehen wollten.

Der Suchbegriff „Stein des Anstoßes“ fördert als Angelpunkt für die Redewendung niemand geringeren als Jesus Christus als Stein des Anstoßes zutage. Auf der Webseite von Vivat.de fand sich dieser Satz: „Für die Christen wiederum ist dieser anstößige Stein, also der »Stein des Anstoßes«, zum Fundament-Stein für ein neues Glaubensgebäude geworden.“ (7) Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung mag sein Übriges dazu beigetragen haben, dass die Redewendung Eingang in den Volksmund gefunden hat. Jedoch findet sich die älteste Formulierung im Alten Testament bei Jesaja (8, 12-14). Im Wikipedia Artikel wird unter unserem Stichwort eine Skulptur gezeigt: dieser Stein des Anstoßes steht an der St.-Bonifatius-Kirche in Schapdetten, Nottuln, Nordrhein-Westfalen und hat, wie mir scheint, die nötige Fallhöhe bzw. Originalität zum Kunstwerk. Obwohl, gestiftet wurde er vom örtlichen Landschaftsgärtner. (8) Die Inschrift auf der Bronzetafel lautet: „Stein des Anstosses // Christus ist es auch“ und im Hintergrund auf der Kirchenwand „Rette deine Seele“. (9)

14.08.2024 / Frederike Kaa

Datum / Beitrag von Benutzer-Nick-Name


Hof- und Wegebefestigung mit verschiedenen Pflastersteinen. Feldsteine als Fundament. Screenshot des virtuellen Rundgangs auf www.kreismuseum-syke.de weiter in der Navigation mit „Digital“. Die grünen Punkte sind Steuerelemente im virtuellen Rundgang Der Screenshot wurde in etwa in der Position vor dem Bauernhaus gemacht. (Bildnachweis siehe Abb. 6 und Anm. 3.)


Abbildungen

Abb. 1-4: Fotos Pflasterstein und Scans "Kärtchen": Elsbeth Kautz.
Abb. 5: Screenshot Wortgraph Pflasterstein. Gefunden auf https://corpora.uni-leipzig.de. Suchwort Pflasterstein. Screenshot vom 12.08.2024.
Abb. 6: Screenshot des virtuellen Rundgangs auf www.kreismuseum-syke.de weiter in der Navigation mit „Digital“ – https://mpembed.com/show/?m=PajM7T5BAeo&play=1&minimap=1&hotspots=2&fadehotspots=1&minimapnopano=1 . Der Screenshot wurde in etwa in der Position vor dem Bauernhaus gemacht. Wie Anmerkung 3.


Anmerkungen

 (1) Die „Fallhöhe“ stammt aus dem Literaturbereich und drückt die Spannung zwischen Stand und möglichem Sturz, heißt Gesichtsverlust, aus. Über Jahrhunderte der Geschichtsschreibung besaßen nur Adelige Fallhöhe. Menschen bürgerlicher Herkunft wurde dramaturgische Fallhöhe erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zugestanden, beispielsweise mit Lessings Emilia Galotti oder Schillers Louise Miller in Kabale und Liebe. In der Kunst spricht man eigentlich von Schöpfungshöhe um die Originalität eines Einfalls auszuzeichnen. Nicht jeder Strich auf einem Papier ist gleich Kunst.

 (2) „Zur Schule“ hieß die Kneipe im Sielpfad korrekt.

 (3) https://www.kreismuseum-syke.de weiter über die Navigation „digital“ zum Virtuellen Rundgang oder mit dem Direktlink https://mpembed.com/show/?m=PajM7T5BAeo&play=1&minimap=1&hotspots=2&fadehotspots=1&minimapnopano=1. Der Screenshot wurde in etwa in der Position vor dem Bauernhaus gemacht.

 (4) Zur Orientierung beispielsweise https://www.natursteine-geostones.de/Natursteinpflaster:::18.html

 (5) „When The Music's Over“, Song von den Doors, Album Strange Days 1967. Übersetzung (Wikipedia): Was haben sie der Erde angetan, was haben sie unserer schönen Schwester angetan? Zerstört und geplündert und sie aufgerissen und gebis-sen … Vergleiche Wikipedia Eintrag unter dem Songtitel „When the Music’s Over“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. Juli 2024, 18:59 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=When_the_Music%E2%80%99s_Over&oldid=246498005 (Abgerufen: 14. August 2024, 12:47 UTC). Kurzlink https://w.wiki/Ausm.

 (6) https://corpora.uni-leipzig.de/de/res?corpusId=deu_newscrawl-public_2018&word=Pflasterstein# aufgerufen am 12.08.2024 über Google-Suche, Stichwort Pflasterstein. Webseite mit SingelFile als Download vorhanden.

 (7) https://www.vivat.de/magazin/bibel/redewendungen/der-stein-des-anstosses/.

 (8) Hinweis unter Lizenzangaben zum Foto siehe https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nottuln,_Schapdetten,_-Stein_des_Anstosses-_--_2016_--_3859.jpg.

(9) Aufgrund der Bildrechte zeige ich die Abbildung hier sicherheitshalber nicht. Seite „Stein des Anstoßes“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 16. Januar 2024, 09:10 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Stein_des_Ansto%C3%9Fes&oldid=241226292 (Abgerufen: 12. August 2024, 13:49 UTC) oder Kurzlink https://w.wiki/Atu2.


Datenblatt und Druckversion siehe Sammlung